Welches ist der beste Weg für sozialdemokratische Politik?

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
liebe Genossinnen und Genossen,

es sind schwierige und bewegte Zeiten. Ich habe in den letzten Wochen und Tagen alles gegeben, um meinen Ausführungen der letzten beiden Persönlichen Erklärungen gerecht zu werden. Vor allem habe ich weiter Alternativmodelle zu Neuwahlen und Großer Koalition vorgebracht und bei den Sondierungsgesprächen im SPD-Team darauf gedrungen, möglichst viele Inhalte durchzusetzen, die uns der SPD-Bundesparteitag im Dezember mit auf den Weg gegeben hat. Am kommenden Sonntag muss nun der Bundesparteitag die Lage bewerten.

Ich persönlich komme zu folgender Einschätzung:

  1. CDU/CSU aber auch breite Teile der Öffentlichkeit (einschließlich der Medien) sind nicht bereit, über alternative Regierungsformen zu verhandeln. Teilweise bin ich auch in der SPD als jemand angegriffen worden, der gut für ein Politikseminar, aber eigentlich ein Träumer sei. Ich muss akzeptieren, dass es insoweit aktuell keine realistische Perspektive für Alternativmodelle gibt, auch wenn Martin Schulz und Andrea Nahles die Optionen im Rahmen der Sondierungsgespräche vorgebracht haben. Immerhin verbuche ich es als Erfolg, dass man sich in den Sondierungsgesprächen auf eine Überprüfungsklausel verständigt hat, die eine kritische Betrachtung der Regierungsarbeit in zwei Jahren vorsieht. Das kann ein scharfes Schwert sein. Zudem enthält die Präambel des Sondierungspapiers die Formulierung: „Dabei streben wir einen politischen Stil an, der die öffentliche Debatte belebt, Unterschiede sichtbar bleiben lässt und damit Demokratie stärkt.“ Sollte es zu weiteren Verhandlungen kommen, muss dieser Satz weiter mit Leben gefüllt werden – deshalb trete ich z.B. für eine Klausel „agree to disagree“ ein, die in einigen Parlamenten bereits Realität ist und die vorsieht, dass man ganz bewusst offen im Parlament abstimmen lässt, da die Parteien in bestimmten Fragen keinen guten Kompromiss finden und unterscheidbar bleiben möchten.
  1. Inhaltlich hat sich die SPD gemessen an den Inhalten, die der Bundesparteitag vorgegeben hat, an zentralen Punkten durchsetzen können – an einigen wichtigen Punkten aber auch nicht. Ich hänge das Papier als Anlage an, so dass eine individuelle Beurteilung möglich ist. Als wichtige Erfolge stehen für mich exemplarisch:
  • Das Bekenntnis zu einem solidarischen Europa, das mit sehr konkreten Maßnahmen verknüpft ist. Wenn wir uns an das Agieren Schäubles in den letzten Jahren erinnern, kann hieraus in Verbindung mit der Politik des neuen französischen Präsidenten ein wichtiger neuer Impuls im Sinne der SPD erwachsen.
  • Den weitgehenden Wegfall des Kooperationsverbotes, der uns ermöglichen wird, Milliardenbeträge in die Bildung zu investieren. Gebührenfreie Kitas, Ganztagsschulen, die Stärkung der beruflichen Bildung und der universitären Ausbildung waren Ziele, für die ich im Wahlkampf entschlossen gekämpft habe, und die jetzt umsetzbar sind.
  • Die Wiederherstellung der Parität in der Krankenversicherung, die Senkung der Arbeitslosenversicherung und die Anhebung der Freibeträge, ab denen volle Sozialbeiträge erhoben werden. All diese Punkte werden vor allem Geringverdiener entlasten. Die Abschaffung des Solidaritätszuschlags für 90 Prozent der Bevölkerung und die weitere Erhebung für die 10 Prozent Topverdiener ist die Umsetzung des SPD-Modells, mit dem wir Wahlkampf gemacht haben.
  • Die Grund- bzw. Solidarrente, die über die bisherigen Vereinbarungen hinausgeht, weil sie nicht nur in die Zukunft wirkt, sondern auch denjenigen Rentnerinnen und Rentnern eine Rente oberhalb der Grundsicherung ermöglichen würde, die bereits in Rente sind.
  • Es sind zahlreiche Investitionen in Pflege, Digitalisierung und Infrastruktur (ÖPNV) vorgesehen, von denen vor allem auch die Kommunen profitieren werden.
  • Erstmals wird ein öffentlicher Beschäftigungssektor gebildet, für den wir seit langer Zeit streiten.
  • Die Forderung der Union, den Rüstungsetat bis 2024 auf 2 Prozent des Bruttoinlandproduktes ansteigen zu lassen, konnten wir abwehren. Auch dafür habe ich im Wahlkampf gestritten.
  • In der Klimapolitik ist es gerade nicht zu der Aufgabe von Klimazielen gekommen. Aber wir haben uns ehrlich gemacht und die Lücke zur Erreichung des Ziels im Jahr 2020 deutlich benannt. Erstmals reden wir von einem Datum für den Kohleausstieg, welches die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ festlegen soll. Wir wollen dieses Thema, das gerade auch in der SPD sehr umstritten ist, mit Gewerkschaften und Umweltverbänden diskutieren und dies nicht von oben herab. Wir brauchen hier Absprachen, die über Jahrzehnte halten. Deshalb halte ich diesen Weg für unbedingt erforderlich. Zudem haben wir den deutlichen Ausbau der Erneuerbaren Energien sowie erstmals ein Klimaschutzgesetz vereinbart, das vor allem den Verkehrs- und Gebäudesektor einschließen – und die Erreichung der 2030 Ziele gewährleisten soll. Seit über zehn Jahren habe ich für dieses Gesetz gestritten. Nicht einmal die Jamaika-Sondierer hatten eine solche Maßnahme vorgesehen, die endlich Verbindlichkeit in der Klimaschutzpolitik schafft.
  • Auch im Bereich der Landwirtschaft wurde mit einem bundeseinheitlichen Gentechnikverbot und dem schnellstmöglichen grundsätzlichen Ausstieg aus glyphosathaltigen Pflanzenschutzmitteln mehr erreicht, als die Grünen in den Jamaika Verhandlungen vereinbaren konnten.

Demgegenüber gab es keinerlei Fortschritte bei der Bürgerversicherung und der Abschaffung der sachgrundlosen Befristung. Auch die Erhöhung des Spitzensteuersatzes konnte, mit Ausnahme der Regelungen zum Soli, nicht durchgesetzt werden. Auch wenn die Vereinbarung eines Einwanderungsgesetzes ein wichtiger Erfolg ist, hätten wir uns bei der Frage des Familiennachzugs bei subsidiär geschützten Flüchtlingen mehr gewünscht. Entgegentreten möchte ich der Behauptung, wir hätten bei der Zuwanderung eine Obergrenze gezogen. Hier bitte ich, den Text „Ergebnisse der Sondierungsgespräche von CDU, CSU und SPD“ (Seite 19 bis 21) sehr genau zu lesen (siehe hier). Die CSU wollte die Nennung durchschnittlicher Zuwanderungszahlen, die zu erwarten sind. Es gibt aber über die Frage der Bekämpfung von Fluchtursachen hinaus keinerlei vereinbarte Maßnahmen, die eine Begrenzung mit Erreichung des Durchschnittswertes bedeuten würden. Das würde es möglicherweise bei keiner Regelung mit den Stimmen der rechten Mehrheit im Parlament geben. Für die SPD haben wir das klar in den Gesprächen ausgeschlossen, was dazu führte, dass über diese Formulierungen bis in den frühen Morgen am Freitag gestritten wurde.

  1. Wie es der Bundesparteitag im Dezember beschlossen hat, muss er nun am kommenden Sonntag die Ergebnisse zu 1) und 2) entscheiden und insbesondere, ob sich der Einstieg in Koalitionsverhandlungen lohnt und dann am Ende die Mitglieder entscheiden. Ich habe im Parteivorstand für die Verhandlungen votiert, weil die bereits ausgehandelten Punkte eine Verbesserung der Situation vieler Menschen in Deutschland bedeuten würde. Ein Hauptargument gegen eine weitere Große Koalition war für mich das Aufbrauchen von Gemeinsamkeiten. Schaut man sich die Ergebnisse an, so ergeben sich vor allem in der Europa- Bildungs-, Sozial- und auch Umweltpolitik Ansätze, die einen Abbruch von Verhandlungen aus meiner Sicht nicht rechtfertigen, weil sie Gegenstand unseres Wahlkampfes gewesen sind und nun zu teilweise deutlichen Verbesserungen in unserer Gesellschaft führen könnten. Inwieweit weitere Verhandlungen weitere Verbesserungen bringen, kann ich nicht vorhersagen. Klar ist, dass der Begriff „Koalitionsverhandlung“ bereits ausdrücklich „verhandeln“ beinhaltet, so dass ich nicht nachvollziehen kann, wenn CDU/CSU nun meinen, das Sondierungspapier sei nicht weiter entwickelbar. Ich erwarte hier eine andere Herangehensweise, die der Parteitag festlegen kann. CDU/CSU müssen dann entscheiden, ob sie unter diesen Umständen in Koalitionsverhandlungen eintreten wollen.
  1. Neben den inhaltlichen Punkten ist die grundsätzliche Frage, inwieweit die SPD erneut in eine Große Koalition eintreten sollte, eine weitere. Die Debatte in der Partei und in der Öffentlichkeit ist sehr kontrovers. Es ist nach meiner Wahrnehmung nicht untertrieben, von einer Zerrissenheit zu sprechen. Teilweise wird sehr persönlich gestritten. Ich mache mir deshalb große Sorgen.

Meine Vorbehalte gegenüber einer Großen Koalition bleiben grundsätzlich gültig. Wie oben beschrieben, sind CDU/CSU aber nicht bereit, über andere Formen der Zusammenarbeit zu reden. Insoweit gehe ich aktuell davon aus, dass es im Falle der Ablehnung weiterer Verhandlungen zu Neuwahlen kommen wird, die angesichts der inneren Zerrissenheit der SPD und den bereits ausgehandelten obigen Punkten große Herausforderungen bedeuten würden.

Nach meiner Einschätzung gibt es deshalb nur die Möglichkeit, aus der Zerrissenheit eine Stärke werden zu lassen, indem letztlich jedes SPD-Mitglied die Möglichkeit hat, die Situation zu beurteilen und dann für sich zu entscheiden. Ich weiß, dass es demgegenüber viele Stimmen gibt, die jetzt bereits ein „Nein“ des Bundesparteitages verlangen. Ich nehme auch wahr, dass von „Erpressung“ der Mitgliedschaft im Falle einer Befragung gesprochen wird.

Mein Ziel ist, das die Partei in dieser schwierigen Situation zusammen bleibt. Das kann nach meiner Einschätzung nur gelingen, wenn der höchste Souverän – also die Mitglieder in Gänze – abstimmt. Kein Abgeordneter, kein Vorstandsmitglied und auch kein Delegierter darf dabei größeres Gewicht haben. Das würde voraussetzen, dass der Bundesparteitag am kommenden Sonntag weiteren Verhandlungen zustimmt. Garantieren würde ich aber, dass in den Wochen nach den Verhandlungen und vor dem Mitgliederentscheid in der Region Hannover und in unserem Wahlkreis zahlreiche Informationsveranstaltungen stattfinden, bei der Pro und Contra gleichermaßen dargestellt werden. Meine Hoffnung ist, dass das Ergebnis dann die maximale demokratische Legitimation besitzt, die in dieser Situation notwendig ist – egal, wie es ausgeht.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

liebe Genossinnen und Genossen,

für direkte Rückmeldungen bin ich gerade in diesen Tagen dankbar. Die SPD hat in ihrer Geschichte viele bewegte Zeiten hinter sich. Auch diese Herausforderung werden wir meistern – dafür werde ich in den nächsten Tagen und Wochen meine ganze Kraft einsetzen!

Herzliche Grüße!
Ihr/Euer Matthias Miersch